Das Glück als Landeswährung
Bhutan zu besuchen ist wie eine Reise durch die Zeit. Man lässt Jahrhunderte zurück und ist dem Zeitgeist doch voraus

Der Aufstieg zum Tigernest ist kräftezehrend; Einheimische gehen - nicht nur über die längste Brücke - zu Fuss
Denise Jeitziner / SonntagsZeitung 01.03.2020
Dass etwas besonders ist in Bhutan, realisiert man nicht sofort. Würden nicht überall bunte Gebetsfahnen im Wind flattern, könnte man meinen, man sei im Engadin, im Rhone- oder im Maggiatal. Aber das Himalaja-Königreich liegt höher, als es scheint. Die Beine sind irritierend schwer, der Atem kommt kaum nach. Vielleicht ist es deswegen heute so still in unserem Minibus, mit dem wir seit Tagen unterwegs sind. Wie sollen wir es bloss nachher zum Tigernest schaffen, das sich auf 3000 Meter über Meer an einen senkrechten Felsen krallt? Jeder Einheimische möchte das Heiligtum einmal im Leben besuchen, jeder Tourist will es sehen, aber nicht jeder erreicht das Ziel.
Dieser erste Eindruck ist sinnbildlich für das Land: Da ist mehr, als man sieht, und manchmal muss man innehalten, um vorwärtszukommen. Das Tempo ist gemächlich. Gerade mal zwei Linienflüge landen hier täglich; pro Jahr sind das so viele wie in Zürich an einem Tag. Die Einreiseschalter sind aus Holz, das Gepäckband kurvt wie eine Modelleisenbahn um die Miniaturversion des Dzong von Punakha, der unweit der längsten Hängebrücke Bhutans liegt.
Der Staat nutzt den Tourismus zum Wohl seiner Bewohner
Mehr Touristen könnte das Land, eingezwängt zwischen Indien und China, auch noch gar nicht beherbergen. Es ist so klein wie die Schweiz, hat aber zehnmal weniger Einwohner. Die Infrastruktur abseits der Hauptstrasse verbessert sich nur langsam. Erst seit wenigen Jahren gibt es Fernsehen, Internet und Handyempfang. Den Zeitgeist trifft Bhutan jedoch besser als der Westen. Auch weil es beim Sprung in die Neuzeit vieles richtig gemacht hat.
Unser Minibusfahrer Pema muss wieder einmal hupen. Eine Kuh hat es sich neben dösenden Hunden auf dem Asphalt gemütlich gemacht und will partout nicht aus dem Weg. So entspannt können nur Tiere in buddhistischer Umgebung sein. «Wer eine Kuh überfährt, muss dem Besitzer das Doppelte ihres Werts bezahlen», erzählt Reisebegleiter Galey, der jeden noch so überzeugten Individualtouristen vom Reiz einer geführten Reise überzeugen kann.
Auch das ist Teil von Bhutans Glücksstrategie. Als der damalige König vor 45 Jahren beschloss, sich der Welt zu öffnen, wusste er, dass er mit den kapitalistisch geprägten Ländern sowieso nicht mithalten kann, und definierte eine eigene Währung: das nationale Glück. Wer einreisen will, muss über einen offiziellen Anbieter buchen und mindestens 250 Dollar täglich ausgeben - für einen einheimischen Führer, die Übernachtung und alle übrigen Kosten. So schützt sich Bhutan vor Massentourismus. Zudem fliessen 65 Dollar in die Bildung und die medizinische Versorgung. Beides ist für die Bewohner kostenlos. Und glücksfördernd.
Internationale Hotels sind erst seit kurzem zugelassen. Dass die Luxuskette Six Senses entlang der schönsten Orte des Landes bauen durfte, ist nur logisch: Sie trägt das Nachhaltigkeitskonzept Bhutans in ihrer DNA. Die grosszügigen Lodges fügen sich nahtlos in die Umgebung ein. Sie setzen auf traditionelle Elemente und minimalistischen Luxus. Es gibt viel Ruhe und keinen Plastik. Das Wasser wird in wiederverwertbaren Flaschen serviert. Das Gemüse stammt wenn möglich vom hauseigenen Garten. Es ist wie in Bhutan selber: Lebensmittel werden nur importiert, wenn die Bauern zu wenig produzieren. Auf Einwegplastik verzichten die Einheimischen, oder sie verwenden es wieder. Nichts wird verschwendet.
Nett sein und so für ein gutes Karma sorgen
Wer will, kann sich im Hotel von einem Astrologen Rat fürs jetzige und nächste Leben holen - so wie es die Einheimischen vor wichtigen Entscheidungen tun. Der Aberglaube ist allgegenwärtig. Selbst in der investigativen Wochenzeitung «The Bhutanese» findet sich eine Ratgeberrubrik: Heute sei ein guter Tag für spirituelle Rituale, aber ein schlechter, um ein neues Geschäft zu starten.
Wir wollen bloss zum Tigernest. Auf der Fahrt dorthin erzählt uns Galey von Guru Rinpoche, der den Buddhismus nach Bhutan gebracht hat. Er sei auf dem Rücken eines Tigers auf jenen Felsvorsprung geflogen, wo heute das Heiligtum stehe. Geschichten wie diese rezitiert der 29-Jährige so selbstverständlich wie die jüngsten Sportnews: «Liverpool hat gestern 0 zu 2 gegen Napoli verloren.»
Wie die meisten Männer trägt auch Galey die einheimische Tracht. Der Gho ist eine Art kurzer Bademantel mit Kniestrümpfen. Die Frauen ziehen die Kira an, einen bodenlangen Wickelrock mit Jäckchen. Traditionen wie diese zu wahren, ist ein Grundpfeiler der Glücksphilosophie. Ein anderer ist die tief verankerte buddhistische Lebensweise. Mantras wie «Keep the environment clean & green» stehen auf Schildern am Strassenrand. «No hurry, no worry». «Don’t create bad karma. Don’t leave behind an injured animal». Also die Umwelt schonen, immer schön entspannt bleiben und Sorge zu Tieren tragen. Kurz: Nett sein und so für gutes Karma sorgen.
Nach fünf Tagen in Bhutan fühlen wir es auch. Die fiese Mücke im Schlafzimmer lassen wir leben. Jemand von uns erkennt in einem Hund mit verschiedenfarbigen Augen die Reinkarnation David Bowies und stimmt «Ziggy Stardust» an. Die Trinkflasche füllen wir auf, statt sie achtlos zu entsorgen. Wir wollen es schliesslich zum Tigernest schaffen und endlich das Himalaja-Gebirge sehen, bislang war das Wetter - oder Karma - zu schlecht dafür.
Wer sich nicht den ganzen Weg zutraut, kann sich bis zur Hälfte von Maultieren tragen lassen. Der schlammige Pfad führt über Wurzeln durch einen feuchten Wald, nur manchmal gibt er einen kurzen Blick auf das Heiligtum hoch oben frei. Drei Viertel des Landes sind bewaldet, und jedes Jahr am 2. Juni pflanzen alle Einheimischen einen neuen Baum. Bhutan schluckt mehr CO2, als es produziert. Es gibt ja auch keine SUV-Eltern, die ihre Kinder herumkutschieren. Selbst die Kleinsten laufen zur Schule, obwohl manche mehrere Stunden dafür brauchen.
Bald hängt jeder von uns seinen Gedanken nach, zum Reden ist die Luft zu kostbar; nur das Urwaldgezirpe und unser Atem sind zu hören. Immer weiter den Gebetsfahnen nach. Nicht von jenen irritieren lassen, die einen überholen. Und dann taucht es nach Stunden aus dem Nebel auf: das Tigernest, unser Ziel. Drinnen erwarten uns karge Räume, meditierende Mönche und Altare mit bizarren Bildern. Unsere Handys mussten wir abgeben; es ist ungewohnt, alles so achtsam zu betrachten.
Hinter einem Vorhang empfängt uns der Lama für einen Segen. Wir sitzen andächtig an niedrigen Tischlein, der Geistliche brummelt im Singsang. Just in diesem Moment entschliesst sich die einsame Kaffeemaschine in der Ecke für einen Spülvorgang. Das Karma nimmts locker: Auf dem Heimflug über den Himalaja schenkt es uns freie Sicht auf den Mount Everest, das Dach der Welt.
Die Reise wurde ermöglicht von Windrose - Finest Travel und der Hotelgesellschaft Six Senses
Schon die Anreise ist beeindruckend
Anreise: Bhutan ist mit Drukair ab Delhi in ca. 2 Stunden erreichbar. Mit etwas Glück ist der Mount Everest zu sehen; der Landeanflug gilt als einer der spektakulärsten der Welt.
Unterkunft: In Paro, Thimphu, Punakha, Gangtey und Bumthang sind fünf neue Lodges der Hotelgesellschaft Six Senses entstanden, die sich der Führung nachhaltiger Resorts und Spas verschrieben hat, www.sixsenses.com
Reiseveranstalter: Buchen kann man nur über anerkannte Agenturen, die Tagespauschale beträgt 250 Dollar (Nebensaison 200 Dollar). Windrose - Finest Travel führt mit der 12-tägigen «Himalaja - hoch und heilig»-Tour unter anderem zu Naturschönheiten, kulturellen Stätten und Heiligtümern mit Mönchszeremonien, ab 5690 Euro pro Person. Tel. +49 30 201721 33, www.windrose.de
Beste Reisezeit: Mitte September bis Mai.
Allg. Infos: Bhutan Tourismus, www.tourism.gov.bt

Das Six-Senses-Resort in Thimphu